Wer stand denn da am Waldesrand?

Seufzend blättert sie die Seite ihres Buches um.
Eine weiße Seite mit keinerlei Inhalt.
Eine Seite, die ihr so leer erscheint wie der Rest ihres Lebens.
So leer und … sinnlos.
Wieder seufzend schmeißt sie das Buch achtlos hinter sich auf die Rückbank und schaltet in derselben Bewegung das Licht aus. Ein kalter Wind weht durch die herunter gelassenen Scheiben des Wagens und sie schließt wie aus Reflex die Fenster. Nur ein Knopfdruck (Sirrrrr) und schon fährt das harte Glas langsam nach oben und schneidet ihre Welt sauber von der Außenwelt ab. Sie könnte jetzt schreien, schreien so laut sie wollte und man würde sie kaum in dieser anderen Welt wahrnehmen, geschweige denn…
Ihr Kopf schreckt kurz hoch! Hat sich da draußen etwas bewegt?
Irgendein Vogel fliegt mit lauten Gezeter (ohne dass sie einen Laut davon hört) vorüber. Sie lacht. Wie dumm von ihr. „Es geht dir gut.“, summt die Klimaanlage und bläst automatisch lauwarme Luft ins Wageninnere.
(Alles in Ordnung.)
„Sowas blödes… Ich bekomme eine Gänsehaut und das wegen eines dummen Raben. Hab wohl zu viel Alfred Hitchcock gelesen in letzter Zeit.“
In ihren Gedanken rauscht kurz ein Fernseher in schwarz-weißem Schnee, ohne dass sie es wirklich wahrnimmt, bevor sich das Bild allmählich scharf stellt. In diesen Gedanken legt ihr Mann sanft seine Hand um ihr Haar, streichelt es… So wie er es früher andauernd getan hatte.
Liebkost sie und flüstert „Ich liebe dich, Darling!“. Alles scheint wunderschön. Ein gehauchtes Gefühl, das sanft in ihren Ohren kitzelt.
Sie packt sich mit der rechten Hand kurz an ein Ohrläppchen. Nur so eine dumme Angewohnheit vor ihr. Die Umgebung wird wärmer… und freundlicher. Es sind zwar nur Gedanken, doch sie fühlt sich sichtlich wohler. Ihre Finger greifen nun nach dem runden, geriffelten Lautsprecherknopf des Radios.
Soll ich es anschalten?
(Warum denn nicht?)
Eine Weile Zeit schleicht vorüber.
(Los mach schon.)
Wie Nebel auf eines Farmers Feld.
Dann weichen ihre Finger zurück.
Die Kamera reißt sich mit kurzem Ruckeln von der Szenerie, schwenkt durch die Außenscheibe neben ihrem Kopf. Ein Wagen, Farbe unbekannt. Dunkel. Tageszeit Nacht. Umgebung? Sie dreht sich langsaaaam im Kreis.
Nichts als tiefschwarze Nacht. In der Ferne ein Waldesrand mit einer Holzhütte. Die gezackten Umrisse des Waldes heben sich vom Horizont ab.
Schwarz auf dunkelstem Blau.
Wie der Nacken eines schlafenden Drachens.


Ein Zoom nach oben. Vereinzelt könnte man ein paar Sterne vielleicht erahnen, doch… das erscheint eher als Einbildung. Als Einbildung, um sich nicht so allein zu fühlen.
(Dein Freund ist schon viel zu lange weg… Nicht wahr?)
So allein und…
(Was treibt er da bloß?)
„Sei still!“ zischt sie.
Keinerlei Reaktion. Woher denn auch? Sonst ist ja niemand da. Ihre rot lackierten Nägel trommeln nervös auf das Amaturenbrett.
„Er kümmert sich um unsere Geschäfte.“

Nichts. Nur Dunkelheit vor der Windschutzscheibe. Und trommelnde Nägel.
(Natürlich tut er das… NUR das… Eure Geschäfte…)
Starr und stumm starrt sie in die Nacht. Ihre innere Stimme hat recht… Er ist schon viel zu lange weg, aber er wird sicherlich gleich kommen. Es kann nicht mehr lange dauern bis sich sein muskulöser, großer Körper aus der Dunkelheit schält und fröhlich zum Wagen herüber läuft. Er wird sagen „Da bin ich wieder, Darling.“ und sie auf den Mund küssen. Sie kann es förmlich schmecken und ihn riechen.
(Er hat doch bestimmt eine andere gefunden… Find dich damit ab.)
„Nein, das werd ich nicht!“ faucht sie.
Ein Blick auf’s Lenkrad und dann nach ein paar gelähmten Sekunden auf das Handschuhfach.
(Doch… Sieh es endlich ein!)
Wie gern hätte sie jetzt eine Zigarette. Nur eine… Nur so für den Geschmack. Sie hatte zwar vor zwei Jahren das Rauchen aufgegeben, aber die Ungeduld und die Sorge um ihren Mann verleiteten irgendwelche chemischen Prozesse in ihrem Körper dazu ihrem Gehirn spontan „Ich-will-Nikotin“-Impulse zu senden.
In Gedanken hört sie Metallfedern quietschen.
Wie in einem alten Motelbett.
…und stöhnende Laute.
(Wie in einem Bett in einer Holzhütte am Waldrand?)
„HÖR ENDLICH AUF!!!“ schreit sie und haut sich mit der flachen Hand vor den Kopf.
(Ganz wie du willst. Ich lasse dich jetzt allein.)
Und wieder nur die Dunkelheit vor der Windschutzscheibe. Dunkelheit und trommelnde Nägel. Er wird gleich kommen, er wird gleich…
Dann knallt plötzlich etwas gegen die Beifahrerscheibe!
*BAMM*
Sie fährt zusammen, reisst die Augen auf!
…ihr Kopf schnellt herum…
…und sieht gerade noch wie irgendein Federvieh mit gebrochenem Genick von der Scheibe Richtung Erdboden rutscht und eine Spur von roten und teilweise gelben Schlieren hinterlässt.
Ihr Herz rast! Überschlägt sich fast!
Sie atmet schwer aus.
„Ruuuuhig… Ruuu…“
Ausatmen.
„Nur ein Vogel. Ein kleiner, dummer Vogel.“
Langsam nähert sich ihr Gesicht der Scheibe.
Die Stelle, an der der kleine Kopf zerplatzt ist, ist leicht eingedellt, dass heißt das arme Vieh muss mit unwahrscheinlicher Kraft gegen den Wagen gedonnert sein. Kein Wunder, dass sie sich so erschreckt hat. Aber die Schlieren sehen wirklich widerlich aus!
Eine kindliche Stimme aus ihrer Vergangenheit flüstert in ihrem Kopf: „Wie damals im Biologieunterricht als man dich dazu gezwungen hatte einen Frosch zu sezieren. Erinnerst du dich? Natürlich erinnerst du dich. Wie könntest du so etwas vergessen? Igitt war das glitschig und die Gedärme des Tiers, einfach ekelhaft! Und dann Bernd, dieser Idiot, der hinter dir saß, hatte dir ein ausgeschnittenes Auge auf das Heft geworfen, ein Auge! Starr und… tot. Wie es dich angestarrt hat…“
(Geh ruhig noch etwas näher ran. Schau es dir genau an. Wirf ein Auge drauf.)
Ihr Gesicht überwindet abermals ganz langsam ein paar weitere Zentimeter als etwas mit wahnwitziger Geschwindigkeit auf sie zugeschossen kommt, schwarz und groß und *PENG*
Genau vor ihr in einer roten Lache an der Scheibe zerplatzt.
Panisch macht sie einen Satz nach hinten, stößt sich den Kopf am Wagendach, reißt die Tür auf, taumelt nach draußen und rennt kreischend ein paar Meter vom Auto weg, hinein in die undurchdringbare Dunkelheit.
Sofort umarmt sie ein eiskalter Wind, streicht ihr sanft über das braune, schulterlange Haar.
„Was war das? Was…?“
Wie zur Antwort wird der Wind etwas stärker und ihr Haar beginnt zu flattern.
(Das weißt du doch, Schätzchen. Darling. Nur ein dummer, kleiner Vogel.)
Sie blickt zitternd zum Auto, dann zögernd zu der Hütte am Waldrand.
„Tom, bitte… Beeil dich.“ hört sie sich flüstern und läuft auf wackeligen Beinen zum Auto zurück, steckt vorsichtig ihren Kopf hinein, als erwarte sie, das gleich wieder ein Vogel gegen die Scheibe geschossen kommt, sie durchschlägt und seinen Schnabel in ihr hübsches Gesicht bohrt.
Doch es geschieht nichts dergleichen.
Alles ist still.
Still und ruhig bis auf das leise Säuseln des Windes.
(Bis auf, dass dein Mann gerade eine andere vögelt und dich hier draussen alleine…)
Mit nervösen Fingern fummelt sie das Handschuhfach auf. Irgendwo muss sich doch noch eine längst vergessene Schachtel Zigaretten finden lassen! Sie weiss, dass dort eine sein muss! Ein paar Straßenkarten, alte Lippenstifte, Labello und halb verblichene Eintrittskarten für längst vergangene Musicals und Theateraufführungen werden hastig auf den Beifahrersitz geworfen.
„Bitte, lieber Gott! Ich weiß du hast da eine Schachtel Zigaretten für genau solche Augenblicke deponiert! Für Augenblicke, die einen ohne Nikotin sonst in den Wahnsinn treiben…“
Und tatsächlich hinter einer alten Packung Lakritzbonbons findet sie eine zerknüllte, halb leere Schachtel Malboro, zieht mit zitternden Fingern einen Glimmstengel heraus, klemmt ihn sich zwischen die roten Lippen und wartet bis der Zigarettenanzünder des Wagens klickt.
Wenig später stößt sie blauen Qualm in den dunklen Himmel. Sie hatte nicht einmal husten müssen, doch das Schwindelgefühl setzt unmittelbar ein. Sie schwankt zwei Schritte vor und schaltet die Scheinwerfer ein, um etwas Licht, etwas mehr Zuversicht, etwas…
Sie stockt.
Das Licht fällt auf staubig, lehmigen Boden, staubig und… Was ist das? Ist der etwa lebendig? Er scheint sich zu bewegen… Oder spielen ihr ihre Augen gerade mal wieder einen Streich? Das muss eine Halluzination sein, oder?
(Nein.)
Ein schwarzer Teppich, der reflexartig zum Licht strömt, ein Meer aus schwarzen Käfern und Insekten kommt krabbelnd auf sie zu. Tausende! Ach was hunderttausende von kleinen, schwarzen Beinchen unter schwarzen, glänzenden Chitinpanzern, ein kaum sichtbarer Kopf mit langen, haarigen Fühlern. Sie steht wie zu Stein erstarrt da. Die Zigarette fällt ihr aus der Hand.
Unaufhörlich wandert diese Käferarmee mit zischenden Geräuschen auf sie zu und sie steht still da… Einfach nur da…

P a r a l y s i e r t.

Bis etwas unter ihrer Hose das rechte Bein hinauf krabbelt.
Ihr Körper will schreien, vor Ekel und Angst, doch ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Zwei schwarze Ströme Insekten, die in ihre Hosenbeine fließen. Sie spürt ihre kribbelig krabbelnden Beine auf der nackten Haut… Einer hat sogar fast ihren Slip erreicht! Ohne nachzudenken rennt sie hektisch über das Feld, bloß nicht zurückblicken und bloß schnell weit weg, weit, weit weg! Die Käfer krabbeln immer noch unaufhaltsam unter ihrer Hose empor. Angewidert schlägt sie sich mehrfach beim Rennen auf die Beine, eine Horde von Raben erhebt sich krächzend von den Bäumen und flattert auf das Feld zu, sie bemerkt sie kaum, schlägt sich nur immerzu mit beiden Fäusten auf die Beine und rennt, rennt um ihr Leben. Mehrere Käfer schaffen es bis zu ihrem Bauchnabel. Dann eine Schrecksekunde, eine Kule, ein Sturz und ein Stein, der sie seitlich am Kopf trifft.

Ein weißer Blitz durchzuckt ihre Wahrnehmung.

Ihre Wahrnehmung beginnt zu flimmern. Eine aufgeregte Stimme, die aus weiter Ferne kommt, ruft ihren Namen. „Cynthia! Cynthia!!!“ Mit verschwommenem Blick sieht sie weiße Turnschuhe durch die Dunkelheit auf sie zu rennen.
(Tom…)
Ihre Augen fallen zu und als sie sich zwingt sie wieder zu öffnen, hält er ihren Kopf in der Hand.
„Cynthia! Was ist geschehen? Du musst wach bleiben, Baby! Hörst du mich?“
Die Käfer sind verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
(Du bist wohl durchgedreht, Kleines.)
„Tom…“ flüstert sie mit tauben Lippen. Ein paar Meter entfernt stolziert ein Rabe über das Feld und glotzt sie aus schwarzen Augen an, bevor sie das Bewusstsein verliert.

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