Rot für viele nur eine Farbe, für manch andere ein Symbol für Liebe, Leidenschaft, Lust und Mord. Und für mich? Der Sinn meines Lebens auch wenn ich dafür ziemlich oft blau sehe. Blaues, blinkendes Licht, wie es jetzt über die dunklen Kopfsteinpflaster und die antiken Häuserfronten des Marktplatzes jagt, in der Hoffnung mich aufzuscheuchen wie eine kleine, verschreckte Maus.
„Er ist hier drüben lang gelaufen!“ brüllt eine bedrohlich klingende Stimme dicht neben mir und ich drücke meinen Körper noch fester an den großen Müllcontainer, um mit ihm und der Nacht zu verschmelzen. Der kreisförmige Strahl einer Taschenlampe huscht nur wenige Zentimeter an meinen Füssen vorbei. Ich kann das Leder seiner Uniform riechen, es leise knarzen hören und packe zu. Flinke Finger fesseln ihn geschwind und als seine Kollegen ihn keine zwei Minuten später finden, ist er in ein dickes, rotes Seil gewickelt.
„Mhmmpf!“ knurrt er durch das rote Tuch in seinem Mund, von dem ihn ein Kollege befreit, ein anderer hebt den Bekennerbrief auf, der in seinem Schoß liegt. Schwarze Schrift auf dunkelrotem Papier, das sich in der Hand sanft anfühlt wie Samt:
„An unsere Unterdrücker und Überwacher,
wir, das Volk, wurden frei geboren und wollen nicht länger in Euren Ketten leben. Ihr lebt nur für Profitmaximierung und um Eure endlose Gier zu befriedigen und dafür zerstört Ihr unsere Welt, unsere Zukunft und unser Leben. Ihr behandelt uns wie Vieh, unmündig und dumm, und ihr denkt, dass wir uns das gefallen lassen.
Ihr irrt Euch! Wir sind viele. Für die Freiheit!“
***
Wütend wirft der Polizeihauptkommissar am nächsten Morgen die Ausgabe der Badischen Zeitung auf den Tisch; Titelblatt: „Die roten Rächer schlagen wieder zu“.
„Kann mir jemand erklären wie dieser Terrorist entwischen konnte?!“
Viele verlegene Blicke gehen zu Boden, suchen dort nach Antworten, in der zweiten Reihe hört man ein leises Husten.
„Ja, Herr Dahlheimer ich höre?“
„W..Wir ha..haben W..w…Videoaufn..nahmen“
„Hören sie verdammt nochmal auf zu stottern, wenn sie mit mir reden! Ich habe die Videoaufnahmen bereits gesehen und wissen sie was ich gesehen habe?“
Betretene Stille erfüllt den Raum. Man hätte eine Patronenhülse einer HK P2000 fallen hören können.
„Ich will es ihnen zeigen!“
Ein wurstiger Daumen drückt den Schaumstoffknopf der Fernbedienung fast gänzlich ins Gehäuse und auf dem kleinen Panasonic Fernseher erscheint ein dunkler Marktplatz, ein Muster, einem Schachbrett gleich, das Kopfsteinpflaster des Vortages. Eine Gestalt, komplett in schwarz, nähert sich mit schnellen Schritten, dann wird das gesamte Bild schlagartig rot.
„Rot! Ich sehe rot! Und wissen sie wieso?“
Der Polizeihauptkommissar blickt der Reihe nach in jedes einzelne Gesicht, bevor er die Fernbedienung so hart auf seinen Schreibtisch schlägt, dass das Batteriefach samt Batterien herausfällt. Ein paar seiner Männer in der ersten Reihe zucken zusammen.
„Weil er einen verdammten Störsender verwendet! Und jetzt geht mir aus den Augen und findet diesen Wahnsinnigen!“
***
Leise schnurrend, wie eine süße Schmusekatze, schwebt die Kamera des Geschehens über den Dächern der Stadt und fängt einen zu zwei Dritteln gefüllten Vollmond ein, der langsam von einer dicken, schwarzen Wolke verschlungen wird. Unter ihr ertönt auf einmal ein Klicken, kaum hörbar, aber dennoch da. Schnell fährt sie herum, erblickt einen Mann und zoomt heran, doch je näher sie ihm kommt, desto mehr zerfließen alle Farben zu einer Einheit, bis das Bild an Blut oder einen guten Spätburgunder Wein erinnert.
Es ist ein Kinderspiel. Mit dem richtigen Dietrich ist der kleine Kasten, hinter dem sich die Steuereinheit des Mobilfunkmastes verbirgt, leicht zu öffnen. Eine kleine Platine mit ein paar Chips und Kondensatoren kommt zum Vorschein, gefangen in einem Gewirr aus grauen Kabeln. Der Rest ist reine Routine. Ich schneide ein paar der Kabel durch, klemme sie an meine eigene Platine und schraube den Kasten wieder zu. Der Datendurchsatz wird sich dadurch nur sehr geringfügig verringern, doch der Zusatznutzen ist enorm. Fünf Masten habe ich heute schon manipuliert, fünf folgen noch. Nacht für Nacht und als das Bild der Kamera von rot wieder zur Realität überblendet, sieht man nur noch den Zipfel meines Mantels, wie er hinter der Häuserecke verschwindet.
***
„Hör dir das an“, lacht Sebastian, „Rote Rächer fesseln Polizei. Ein Mitglied der terroristischen Vereinigung, die im Volksmund als die roten Rächer bekannt sind, hat gestern Abend wieder zugeschlagen. In der Nähe des Marktplatzes in Freiburg im Breisgau schlägt er kaltblütig einen Polizisten nieder, der gerade auf Streife war und wirft ihn geknebelt in einen Müllcontainer.“
Ein schmales, junges Gesicht mit blondem Pferdeschwanz lugt um die Ecke vom Badezimmer herum.
„Du darfst nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.“
Es raschelt, was soviel heißt wie, dass er die Zeitung weggelegt hat. Er kommt zu ihr ins Badezimmer, legt ihr die Hände auf die Schultern und liebkost sie zärtlich am Hals.
„Du weißt schon, dass das ziemlich ironisch ist so etwas als Journalistin zu sagen?“
Sie grinst ihn über den Spiegel an und fügt frech hinzu: „Abgesehen von meinen Artikeln natürlich!“
Es folgt ein langer, heißer Zungenkuss, der die Linse der Kamera des Geschehens beschlagen lässt.
***
Ein paar Tage später. Man hört leise Regen gegen eine Fensterscheibe prasseln. Ich sitze in einem dunklen Raum. Nur ein paar Kerzen aus kirschrotem Wachs spenden ein wenig Licht und ergießen sich langsam auf den alten, hölzernen Tisch. Mein rot lackierter Laptop liegt zugeklappt vor mir.
„Es wird Zeit.“ seufze ich der Dunkelheit entgegen, „Nur noch eine einzige Nacht.“
Meine Finger trommeln auf das Gehäuse des Computers, bilden ein Duett mit dem Regen. Der Computerwurm, den ich soeben in die internen Netze der größten Provider des Landes eingeschleust habe, frisst sich derweil in die digitalen Eingeweide von ein paar Servern, um sich dort festzubeißen und auf mein Kommando zu warten. Ein einziges, präpariertes HTTP Paket ist ausreichend, um…
Draußen vor der Tür fällt laut scheppernd etwas zu Boden und ich zucke zusammen! Ein gewaltiger Schub Adrenalin schießt in meine Adern und wie aus Reflex ergreife ich den Laptop, puste die Kerze aus und stehe kaum eine Sekunde später neben der Tür, als diese auch schon langsam und vorsichtig geöffnet wird. Die Mündung einer Pistole erscheint, danach eine Faust, ein Arm, dann geht alles ganz schnell. Ich trete den Arm nach oben, ein Schuss ertönt, Putz bröckelt unbemerkt von der Decke, ein Schlag auf das Nasenbein, ein Knirschen und klappernd fällt die Kanone zu Boden. Ein weiterer Tritt. Knockout. Ich nutze die Chance zur Flucht.
***
Cut! Szenenwechsel.
Eine schmale Person in Mantel und Kapuze rennt über die dicht befahrene Straße. Ein hupendes Auto, dessen Fahrer hinter der Windschutzscheibe wütend die Faust schüttelt und vermutlich laut vor sich hin flucht, doch hier draußen hört man nur den Lärm der Straße und das Klicken der eigenen Absätze auf dem Asphalt. Nach ein paar Häuserecken ist der Straßenlärm verschwunden und in der Sicherheit der Nacht wagt Lisa es die Kapuze abzuziehen und ihren blonden Pferdeschwanz zu entblößen.
Es ist bestimmt ein nicht gerade ungefährliches Unterfangen und leichtsinnig zugleich. Sebastian würde wahnsinnig vor Angst werden, wenn er wüsste, dass sie statt zum Kartenspielen mit ihren Freundinnen hierher unterwegs ist, aber man bekommt nicht alle Tage einen anonymen Hinweis, wo sich einer der roten Rächer aufhält und als Journalistin kann sie einfach nicht widerstehen.
Das Firmenlogo leuchtet in neon-roten Farben und wirkt irgendwie unwirklich, grotesk. Sie lässt es links liegen und schiebt sich leise um die nächste Ecke. Ein hoher Maschendrahtzaun baut sich bedrohlich vor ihr auf, rechts, ein paar Meter entfernt, ist eine Tür. Sie geht hin und als sie versuchsweise den silbernen, kühlen Knauf dreht und sich in Gedanken schon zuflüstert, dass das alles niemals klappen kann, gibt die Tür plötzlich ohne zu Zögern nach. Lisa blickt sich mißtrauisch nach allen Seiten um und tritt ein. Schlagartig legt sich eine behandschuhte Hand auf ihren Mund und unterdrückt ihren Schrei.
„Sind sie die Journalistin?“ flüstert jemand in ihr Ohr. Sie nickt energisch, während sich ihre Eingeweide zusammen krampfen.
„Ich bin ihr… Informant“, sagt die Stimme hinter ihr. Stoff streift ihren Nacken und jagt ihr eine Gänsehaut über den Rücken, „Ich werde jetzt die Hand wegnehmen, bitte bleiben sie ruhig.“
Lisa dreht sich langsam, mit weichen Knien um und blickt in ein Gesicht, das von einer Sturmmaske fast gänzlich verdeckt ist. Nur seine haselnußbraunen Augen sind zu sehen und sie sind auch der Grund, warum sie nicht in Panik verfällt und die Flucht ergreift, denn diese Augen sind so warm, so… herzlich.
„Ich möchte, dass sie sehen, was wir wirklich tun. Ich möchte, dass sie wissen, wofür wir wirklich kämpfen.“
Ich hole meinen roten Laptop aus dem Rucksack und öffne das Display.
„Ich möchte, dass wenigstens eine Zeitung die Wahrheit über uns schreibt.“
Lisas Blick durchbohrt mich förmlich und alle Angst scheint aus ihr entwichen zu sein: „Sie wollen mir erzählen sie sind einer der rote Rächer?“
Ich verbeuge mich kurz, um ein „Ja“ zu signalisieren: „Zu niemandes Diensten, denn es gibt keine Diener.“
Rote Buchstaben auf schwarzem Screen. Ein paar Shellbefehle schon ist der Wurmcode scharf geschaltet. Für heute Nacht. Mitternacht!
„Wir werden die Überwachung ausschalten. Wir werden dafür sorgen, dass alle Kameras des Landes rot sehen. Wir werden ihre Datenbanken löschen, die alle Informationen über uns alle speichern. Wir werden ihnen zeigen, was sie uns können. Wir…“, eine entfernte Kirchenuhr schlägt Mitternacht, „…sind viele.“
Man kann ein Lächeln unterm dem Stoff der Sturmmaske ausmachen, als sein Daumen auf einen Knopf einer selbstgebastelten Schaltung in seiner Hand drückt.
„Für die Freiheit!“,
und alles wird rot.