Der Vollmond glänzt silbern. Sein Widerschein auf dem See wird von
seichten Wellen verzerrt und glitzert wie Bergkristall.
Das Wasser fühlt sich erfrischend kühl an, als ich die Füsse eintauche und sie vor und zurück bewege. Fast wie im Urlaub.
Der Selbstbetrugsversuch wirkt eine Weile lang, Ein Lächeln umspielt meine Lippen und ich geniesse die Stille in dem verlassenen Schwimmbad am See; nur das leise Plätschern der Wellen, wenn sie gegen die Betonmauer branden, ist zu hören und ich stelle mir Palmen im Sonnenuntergang vor.
Ich komme in solchen Nächten gern hier her. Es beruhigt mich. Hier kann ich niemandem schaden, wenn es passiert. Und hier draussen – so hoffe ich zumindest – hört mich auch niemand schreien.
Der Mond tanzt heute besonders schön auf der Wasseroberfläche und ich beginne schon fast zu vergessen, weswegen ich hierhin gekommen bin, beginne fast den Augenblick zu geniessen, doch die Realität belehrt mich eines besseren. Eine kalte Hand umklammert plötzlich mein Herz und ich sehe reflexartig auf die Uhr.
23:47.
Noch 13 Minuten bis es passiert.
Gänsehaut überläuft meinen gesamten Körper, die nicht allein durch die Kälte, die meine Füsse durchströmt, erklärt werden kann.
Ich habe Angst! Angst vor den Schmerzen, Angst die Kontrolle zu verlieren, Angst jemandem zu schaden – oder gar umzubringen.
Ich blicke in den schimmernden Schein des Mondes. Er wirkt beruhigend auf meine angespannten Nerven – doch dieses Gefühl ist nur trügerischer Natur.
23:49.
Meine Haut fängt an sich verspannt anzufühlen, als würde sie sich zusammen ziehen, kurze Zeit später reagieren meine Muskeln – und ich meine wirklich all meine Muskeln angefangen von Kopfhaut, Schläfen und Gesicht (der Wange bis hin zum Hinterkopf), hinunter über Hals, Nacken, Schultern, die Arme bis hin zu den Muskeln zwischen Daumen und Zeigefinger, gefolgt von den Brust- und Bauchmuskeln, die Beine hinab, bis zu den Muskeln auf den Füssen. Alle spannen sich gleichzeitig an, als hätte ich den ganzen Tag Hochleistungssport betrieben (oder als stünde ich unter Starkstrom).
Laut entweicht die Luft aus meinen Lungen. Ich presse die Zähne aufeinander, um nicht zu schreien. Mein Atem folgt dem Muster einer hochschwangeren Frau unter starken Wehen kurz vor der Entbindung.
23:51.
Meine Haut und meine Muskeln sind jetzt zum zerreissen gespannt und fühlen sich an, als würde ein scharfes Messer geschickt über sie streichen, so dass es zwar schmerzt, aber kein Blut fliesst – noch nicht.
Das Gefühl kommt allerdings nicht von der Aussenseite, sondern von innen – tief innen, obwohl ich es sowohl von innen als auch aussen spüren kann. Ich glaube hier spielt mir mein Gehirn einen Streich.
23:53.
Ich krümme mich vor Schmerz nach vorn in der Erwartung zu erbrechen, doch es kommt nichts, nicht mal ein Geräusch.
Mein waberndes Spiegelbild im See blickt mir entgegen, den Mund zu einem unhörbaren Schrei geöffnet, dann schiebt sich gnädigerweise eine Wolke vor den Mond und verdunkelt den Anblick bis hin zur Unkenntlichkeit. Mein rechter Arm schiesst unkontrolliert nach vorn, wie zum Fauststoss. Blut läuft an ihm herab, tropft vom Ellenbogen und läuft mir warm über die Achselhöhle und die Brust.
Ich grunze und schliesse die Augen – wabberndes Licht, wie bei einem Störbild eines altmodischem, analogem Fernsehbildschirm, der nicht wusste, was er darstellen sollte – schwindet langsam zu einem Abbild der Welt vor mir, das sich anfängt zu drehen, doch ich sage mir, dass alles gut ist oder wenigstens gut wird, dass ich das alles schon so oft durchgestanden habe und als ich die Augen wieder öffne, scheint es, als wäre mein Blut schwarz geworden und alle Venen und Kappilaren würden durch die Haut durchscheinen.
23:55.
Ich lege den Kopf in den Nacken, atme stosshaft und unkontrolliert gegen die Schmerzen an, die gleichmässig meinen Körper durchströmen.
Ich bin geübt darin gleichmässige Schmerzen zu ignorieren und schaffe es tatsächlich sie zum Großteil auszublenden.
Für ein paar Sekunden empfinde ich einen triumphalen Sieg, fühle mich beinahe gut. Doch dann brandet eine neue Welle des Schmerzes in mein Bewusstsein und droht meinen Kopf unter Wasser zu drücken und zu sprengen.
In meiner Verzweiflung versuche ich dagegen anzukämpfen, was mit mir geschieht, obwohl ich ganz genau weiss, dass ich nicht die geringste Chance hab.
23:56.
Wie zur Antwort fangen meine Zähne an so stark zu vibrieren, als würden sie ein Eigenleben führen. Ich weiss genau, was gleich geschehen wird, hatte es ja oft genug erlebt und trotzdem versuche ich immer noch es zu verhindern, stelle mir meinen menschlichen Körper vor, wie ich an dem See sitze. In der Hoffnung, das könnte alles andere verhindern und mich wirklich nur dort sitzen lassen – wie naiv bin ich eigentlich?!
Ein schwarzer Schatten fliegt über das Bild und die ersten Zähne fallen mir aus. Ich spucke sie angeekelt in das Wasser. Das leise Platschen verstärkt das Gefühl mich übergeben zu wollen.
Ein Blick zum schwarzen Himmel voll letzter Hoffnung er könnte etwas dagegen unternehmen.
Dann reisst meine Haut mit einem platschendem Geräusch, das nur entfernt an gerissenen Stoff erinnert, entgültig auf. Zuerst ein einschneidender Schmerz an den Armen, dann an den Beinen und schließlich das Gefühl, als zerreisse der ganze Körper.
Ich schreie aus vollem Hals. Bemerke kaum wie die Vögel in der Umgebung erschrocken und laut ihren Unmut kundtuend vor mir fliehen.
Ich wäre am liebsten selbst vor mir geflohen, doch es gibt kein Entrinnen. Ich muss es ertragen. Monat für Monat. Und jedes Mal wünsche ich mir es möge das letzte Mal sein, es sollte mich einfach umbringen oder wenigstens in den Wahnsinn treiben, so dass ich all das nicht mehr ertragen muss, doch den Gefallen wollte mir Gott einfach nicht tun. Er lässt mich lieber leiden unter welchen Absichten auch immer.
23:58.
Mein Mund zieht sich ruckartig zusammen, als hätte ihn jemand schlagartig mit einen Schraubstock zusammen gequetscht und ich spüre wie von weit innen her etwas gigantisch grosses aus mir wächst, Weisheitszähne sind ein Witz dagegen. Einem Geschwür gleich drängt es vor. Scharf und hart wie Metall schneidet es mir die Wange auf und schiebt sich wie ein Knochen nach aussen. Schwarzes Blut rinnt in Strömen aus meinem Mund und von meinem Kinn und unterdrückt einen erneuten Schrei.
23:59.
Jetzt geht alles ganz schnell. Der Rest meiner Haut schmilzt unter Blasen, wird schwarz und riecht wie verbrannt, meine Knochen fühlen sich im ersten Augenblick wie Wachs an, während sie im nächsten schmerzhaft in eine neue Form verschoben werden, die noch verbleibenden Zähne fliegen unter einem lauten Aufschrei aus meinem Mund (das Platschen mit dem sie im Wasser aufschlagen, nehme ich nicht mehr wahr, weil ich nicht mehr ich selbst bin) und bahnen den Weg für eine stahlharte, zum Knochen zerschneiden konstruierte Struktur. Mir bleibt keine Zeit für einen weiteren Aufschrei, bevor der Rest meiner verbrannten Haut zerschnitten wird und Platz für ihr neues Äusseres schafft.
Ich fühle mich kurz als würde ich meinen Körper verlassen und hinfort schweben, doch im selben Augenblick werde ich gewaltsam in ihn zurück geschleudert, doch es ist nicht mehr mein eigener. Ich habe das Gefühl als weiche ein Teil von mir in die Wellen des Sees.
00:00.
Der Mond tritt wieder hinter den Wolken hervor. Starker Wind kommt auf, der den See in Unruhe bringt und die Wellen gegen das Ufer klatschen lässt.
Ein ohrenbetäubender Schrei gellt durch die Nacht, die ansonsten totenstill ist, und ein riesiger Vogel mit einer Flügelspannweite von mehr als fünf Metern erhebt sich immer noch weiter kreischend über das Wasser.
Das Licht, das der Mond wiederspiegelt, schimmert glänzend auf seinem schwarzen Federkleid.